Leitantrag: Europa entfesseln und Zusammenhalt stärken
Antrag L01: Europa entfesseln und Zusammenhalt stärken
Antragsteller*in: Landesvorstand FDP Baden-Württemberg
Status: zugelassen
Sachgebiet: L – Leitantrag zum 124. FDP-Landesparteitag Baden-Württemberg (Rohfassung)
Der Landesparteitag möge beschließen:
1 Präambel
2 Die Europäische Union (EU) hat in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich dazu
3 beigetragen, Frieden, Stabilität und Wohlstand in Europa zu sichern. In der jüngeren
4 Vergangenheit befand sich EU allerdings vorranging im Modus der Krisenbewältigung:
5 Von Euro-, Klima- und Flüchtlingskrisen über Brexit und den Aufstieg nationaler und
6 populistischer Kräfte bis hin zur Covid-19-Pandemie und dem völkerrechtswidrigen
7 russischen Angriffskrieg in der Ukraine inklusive seiner weitreichenden Folgen. Die
8 Bewältigung dieser Krisen ist zum Alltag europäischer Politik geworden.
9 Um die immensen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es ein Europa, das sich auf
10 seine Stärken besinnt und auf die Lösung der drängenden Probleme konzentriert. Eine
11 EU, in der der Krisenfall zum Normalfall geworden ist, muss zügig weiterentwickelt
12 und auch modernisiert werden. Die FDP Baden-Württemberg setzt sich für gezielte
13 Reformen ein, damit die EU auch weiterhin Garant einer friedlichen, stabilen und
14 erfolgreichen Zukunft ist.
15 1. Weiterentwicklung der Europäischen Union
16 Grundlegende Reform der Europäischen Union
17 Die Europäische Union muss ihre Strukturen grundlegend überdenken. Nicht alles muss
18 in Brüssel entschieden werden. Das Europäische Parlament muss gestärkt werden und ab
19 2025 nur noch in Brüssel tagen. Die FDP Baden-Württemberg setzt sich für eine
20 Verkleinerung der EU-Kommission und die Einsetzung eines eigenen EU-Kommissars für
21 Bürokratieabbau ein. Wir wollen eine europäische Verfassung, eine EU-Armee und eine
22 einheitliche EU-Außenpolitik. Europa ist ein Kontinent der Freiheit und der Chancen
23 nicht der Verbote und Bürokratie.
24
25 Institutionen verschlanken und effizienter machen
26 Wir Freie Demokraten stehen für eine Stärkung der europäischen Integration und
27 Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen der gemeinsamen Außen- und
28 Sicherheitspolitik, Migrations- und Flüchtlingspolitik sowie der Gesundheitspolitik.
29 Wir sehen die Notwendigkeit einer Reform der EU- Institutionen und arbeiten an der
30 Erhöhung der Transparenz und Rechenschaftspflicht der einzelnen Entscheidungsträger.
31 2. Wirtschaft und Finanzen
32 Stabile Staatsfinanzen
33 Stabile Haushalte sind die Voraussetzung dafür, dass Staaten auch in Zukunft
34 handlungsfähig bleiben. Die hohen Ausgaben aus Zeiten der Pandemie und Energiekrise
35 müssen darum ein Ende haben. Die Inflation darf nicht weiter durch noch mehr
36 schuldenfinanzierte Staatsausgaben angefüttert werden. Für uns Freie Demokraten ist
37 klar, dass für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verbindliche, strenge und
38 durchsetzbare Schuldenregeln auf nationaler und gegebenenfalls europäischer Ebene
39 gelten müssen. An unserer Haltung ändert auch der von den USA aufgelegte Inflation
40 Reduction Act nichts. Dauerhafte schuldenfinanzierte Wirtschaftshilfen der EU oder
41 der Einzelstaaten lehnen wir ab. Auch indirekte Subventionen wie Quotenregelungen
42 sehen wir sehr kritisch. Vorschläge für die neuen EU-Fiskalregeln, die einer
43 Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gleichkommen, kann Deutschland nicht
44 akzeptieren. Die Antwort auf die wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft muss
45 eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas sein.
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47 Freihandel stärken: Handelsabkommen vorantreiben
48 Freihandel ist ein entscheidender Schlüssel für Wohlstand und Wachstum in ganz
49 Europa. Er schafft Arbeitsplätze, fördert Innovationen und trägt zugleich dazu bei,
50 Abhängigkeiten von einzelnen Ländern zu reduzieren. Wir Freie Demokraten setzen uns
51 deshalb für den weiteren Abbau von Handelshemmnissen und die Förderung von fairem
52 Freihandel ein. Vor allem mit Ländern, mit denen wir unsere grundlegenden Werte der
53 liberalen Demokratie teilen, wollen wir Kooperation und Handel intensivieren. Mit der
54 Ratifizierung von CETA, dem Freihandelsabkommen mit Kanada, ist im vergangenen Jahr
55 bereits ein wichtiger Schritt gelungen. Auf Grundlage dieses fortschrittlichsten EU-
56 Handelsabkommens müssen nun weitere Folgen. Die FDP Baden-Württemberg fordert eine
57 zügige Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas.
58 Es braucht auch einen neuen Anlauf für das Freihandelsabkommen zwischen der EU und
59 den USA und zu Verhandlungen der EU über eine Freihandelszone mit allen ASEAN-
60 Staaten. Langfristiges Ziel muss eine Weltfreihandelszone der Demokratien sein. Der
61 verheerende Angriffskrieg Russlands in der Ukraine lässt uns spüren, wie wichtig die
62 Sicherung von Rohstoffen in der EU ist. Wir Freie Demokraten setzen uns daher aktiv
63 für diverse Rohstoffabkommen der EU mit seinen Partnern ein.
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65 Echte Technologieoffenheit schaffen
66 Die FDP Baden-Württemberg steht für eine Politik, die auf Innovation,
67 Technologieoffenheit und marktwirtschaftliche Instrumente setzt anstelle staatlicher
68 Lenkung. Wir Freie Demokraten bekennen uns nachdrücklich zu den Pariser Klimazielen.
69 Um sie zu erreichen, müssen wir alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen und dürfen
70 Einfallsreichtum und Erfindergeist nicht durch politische Verbote ausbremsen. Wir
71 wollen Anreize schaffen, damit neue Technologien und Geschäftsmodelle entstehen und
72 sich durchsetzen können. Nur wenn die besten und günstigsten Lösungen gefunden
73 werden, kann der europäische Weg dem Rest der Welt als Vorbild dienen und weltweit
74 Nachahmerfinden. Statt Überregulierung durch immer mehr Ordnungsrecht wollen wir den
75 Emissionshandel stärken. Der europäische CO2-Zertifikatenhandel ETS hat seit seiner
76 Einführung im Jahr 2005 bewiesen, dass er zu beständigen CO2-Reduktionen führt.
77 Zukünftig werden neben dem Energie- und Industriesektor auch der Verkehrs- und
78 Gebäudesektor durch einen CO2- Zertifikatehandel abgedeckt. Umso wichtiger ist es,
79 dass in diesen Sektoren jetzt nicht die ordnungspolitische Keule ausgepackt wird. Die
80 FDP-Bundestagsfraktion hat durchgesetzt, dass synthetische Kraftstoffe in Reinform an
81 öffentlichen Tankstellen verkauft werden dürfen, und setzt sich dafür ein, dass am
82 Ende der Beratungen über das Gebäudeenergiegesetz eine technologieoffene,
83 praxistaugliche, sozial ausgewogene und kosteneffiziente Regelung steht. Pläne, den
84 Verbrennungsmotor ab 2035 zu verbieten oder die EU-Gebäuderichtlinie zu verschärfen,
85 würden die klimafreundlichen, marktbasierten und technologieoffenen Mechanismen des
86 ETS unterlaufen und sind daher abzulehnen.
87
88 Vorteile der künstlichen Intelligenz ethisch nutzen
89 Der Einsatz von künstlicher Intelligenz hat unseren Alltag erreicht und fasziniert
90 durch seinen effektiven und facettenreichen Einsatz. Um hier von Anfang an mit der
91 Zeit zu gehen, gilt es die Technologie beim Fortschritt zu fördern und gleichzeitig
92 ethisch und wertebasiert zu kontrollieren. Wir Freie Demokraten setzen uns daher für
93 einen gesetzlichen Rahmen für den Einsatz von künstlicher Intelligenz auf
94 Europäischer Ebene ein, der mit unseren Werten im Einklang steht. Schneiden wir
95 unsere Potentiale nicht ab, sondern geben wir Ihnen eine Grundlage zur Entfaltung.
96 3. Energiepolitik europäisch denken
97 Kernfusion fördern
98 Europa darf bei Zukunftstechnologien nicht von anderen Ländern abgehängt werden. Der
99 weltweite Wettlauf um die Technologieführerschaft im Bereich der Kernfusion hat
100 längst begonnen. Kernfusion bietet das Potenzial, Energie in Zukunft klimaneutral und
101 sicher zu erzeugen. Mit seinen herausragenden Versuchsanlagen und dem großen Knowhow
102 in der Lasertechnik hat Deutschland die besten Voraussetzungen, hier eine
103 Führungsrolle einzunehmen. Die FDP Baden-Württemberg setzt sich deshalb für die
104 Errichtung einer Freiheitszone (abgegrenzter Bereich mit einem höheren Freiheitsgrad
105 im Hinblick auf regulatorische Maßnahmen) für die Erforschung und Anwendung von
106 Kernfusionsreaktoren ein. Ziel ist es, den passenden Regulierungsrahmen auszuloten,
107 um künftig Kernfusionsreaktoren in Europa und insbesondere Deutschland bauen und ans
108 Netz bringen zu können. Wir werden für den Betrieb der Kernfusion in Deutschland
109 einen geeigneten eigenen Rechtsrahmen außerhalb des Atomrechts schaffen, der den
110 inhärent geringeren Risiken dieser Technik Rechnung trägt und die Anwendung der neuen
111 Technologie ermöglicht.
112 Schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren
113 Der Bedarf an Strom und bezahlbarer Energie wird weiter steigen. Ein Ausbau moderner
114 Infrastruktur und beschleunigter Verfahren ist deshalb unerlässlich. Die
115 Bundesregierung hat bereits einige Hürden auf dem Weg zum schnelleren Ausbau der
116 Erneuerbaren Energien aus dem Weg geräumt. Wir setzen uns dafür ein, dass die
117 schnelleren Planungs- und Genehmigungsverfahren beispielsweise auch bei
118 Energieleitungen und Energie-Speichern zum Tragen kommen und in die entsprechende
119 Forschung investiert werden kann. Dafür müssen die Möglichkeiten, die über die
120 europäische Notfall-Verordnung geschaffen wurden, dauerhaft beibehalten werden.
121 Energiewende gesamteuropäisch vorantreiben
122 Die Energiewende sollte als gesamteuropäisches Projekt begriffen werden, um
123 Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaverträglichkeit weiter
124 voranzutreiben. Wir setzen uns für eine weitere Liberalisierung des
125 Energiebinnenmarktes ein. Dadurch wird Strom dort in Europa produziert, wo er
126 aufgrund seiner Standortbedingungen die geringsten Kosten verursacht, während
127 einheitliche Umweltstandards eingehalten werden. Wir fordern auch einen stärkeren
128 Ausbau transnationaler Netze. Der zunehmende Ausbau der Erneuerbaren Energien führt
129 zu immer stärkeren Stromspitzen aus Windkraft und Photovoltaik. Sie müssen effektiver
130 durch das europäische Netz aufgefangen und durch verbesserte Speichermöglichkeiten
131 für Phasen von Schwachwind und fehlenden Sonnenschein verfügbar gemacht werden.
132 4. Gemeinsame Europäische Migrationspolitik mit Verteilungsmechanismus
133 Europäische Integration
134 Wir Freie Demokraten setzen uns für dafür ein, die Europa-Regionen als Motoren der
135 europäischen Integration weiter zu stärken. Maßnahmen hierfür können zum Beispiel die
136 Stärkung von Schüleraustauschformaten, Fördermaßnahmen zum Fremdsprachenerwerb und
137 ein Tag der
138 Grenzregionen als jährlicher Aktionstag in Brüssel und den Hauptstädten mit
139 Binnengrenzen sein. Wir unterstützen die Durchführung eines jährlichen deutsch-
140 französischen Festivals im Rahmen des Aachener Vertrages. Auch der Arbeitsalltag muss
141 erleichtert werden. So muss sich die EU-Kommission dafür einsetzen, dass bei
142 Grenzgängern das faktische Homeoffice-Verbot (25%-Regelung) abgeschafft wird.
143
144 (Flucht-)Migration
145 Gerade Regionen wie Baden-Württemberg mit langen Außengrenzen sind im Bereich der
146 irregulären Migration stark von Sekundärmigration betroffen. Wir Freie Demokraten
147 fordern daher eine Stärkung der freiwilligen oder besser noch: verpflichtenden
148 Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten bei der Übernahme von Geflüchteten. Das
149 muss genauso kurzfristig und unbürokratisch möglich sein wie bei einem Wechsel
150 zwischen zwei Bundesländern und sollte nicht daran scheitern, dass Menschen sich auf
151 Grund unterschiedlicher staatlicher Leistungen an Betroffene weigern, umzuziehen.
152 Daher sollte es auf EU-Ebene eine Einigung auf weitgehend vereinheitlichte Leistungen
153 an Geflüchtete (bei Kaufkraftparität) geben, die den Bedürfnissen der Betroffenen
154 Rechnung tragen. Insbesondere in Grenzregionen geht es aber auch um Kooperation auf
155 allen Ebenen. Wir fordern daher eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den
156 Mitgliedsstaaten bei Fragen der Unterbringung und Versorgung von Menschen,
157 insbesondere in grenznahen Regionen. Auch bei Rückführungen muss die Kooperation
158 gestärkt werden. Rückkehrentscheidungen müssen gegenseitig anerkannt und Charterflüge
159 gemeinsam gestartet werden, auch mit koordinierender Unterstützung der
160 Grenzschutzagentur Frontex. Wir Freien Demokraten fordern zudem, in Gebieten mit
161 humanitärer Notsituation bzw. Kriegsgebieten, in denen die Bundeswehr aktiv ist (z.B.
162 Mali), Europäische Zentren für Asylanträge aufzubauen. Verwaltet durch die
163 Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) und unterstützt durch
164 Frontex können Personen auf diese Weise einen Asylantrag stellen, ohne erst bis auf
165 das europäische Festland kommen zu müssen. Durch Vor-Ort-Entscheidungen und besseres
166 Informationsmanagement zu den Aufnahmeperspektiven verhindern wir das Sterben auf dem
167 Mittelmeer sowie den Landwegen und legen Menschenschmugglern das Handwerk. Wir tragen
168 große Verantwortung für diejenigen Menschen, die mit uns gearbeitet, uns geschützt
169 und unsere Werte geteilt haben. Daher fordern wir Freie Demokraten eine Europäische
170 Strategie für den besseren Schutz von Ortskräften im Rahmen internationaler
171 Operationen. Wie wichtig und herausfordernd dieser Schutz ist, haben wir in
172 Afghanistan gesehen. Es steht zu befürchten, dass in Mali Ähnliches wieder geschehen
173 wird. Die Europäischen Partner müssen hier zusammenarbeiten und gemeinsame
174 Schutzmechanismen und Hilfsmaßnahmen schaffen.
175 5. Außen- und Sicherheitspolitik
176 Qualifizierte Mehrheitsentscheidung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
177 Wir fordern eine baldige Vertiefung der Europäischen Union, auch ohne abzuwarten, ob
178 es zu Vertrags-Änderungen kommt. Gegebenenfalls sollten auch die Brückenklauseln im
179 Lissabonner Vertrag genutzt werden. Wir fordern, dass die Einstimmigkeit im EU-
180 Ministerrat in die qualifizierte Mehrheit überführt wird. Insbesondere in der
181 Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und in der Gemeinsamen Sicherheits-
182 und Verteidigungspolitik (GSVP) müssen Mehrheitsentscheidungen möglich werden. Die
183 Hohe Vertreterin oder der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik
184 muss so aufgewertet werden, dass sie oder er zukünftig als vollwertige „EU-
185 Außenministerin“ oder als vollwertiger „EU-Außenminister“ agieren kann.
186 Integrierte EU-Verteidigungsindustrie
187 Wir Freie Demokraten setzen uns für eine integrierte EU-Verteidigungsindustrie ein.
188 Dazu streben wir eine Weiterentwicklung der EU-Verteidigungsinitiative für die
189 Ständige Strukturierte Zusammenarbeit PESCO an.